Ein weiteres Jahr als Karriereberaterin neigt sich dem Ende zu. Die Erzählungen meiner Klientinnen und Klienten spülen individuelle berufliche Themen nah an mich heran. Jede Geschichte ist anders. Manche sind sehr heftig.
Und dennoch hat das Besprochene einen gemeinsamen Nenner: Es geht um allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen, die sich nicht nur an Arbeitsmarktdaten, sondern auch am Verhalten von Menschen im Berufsleben festmachen lassen.
Rechtes Handeln unter unrechten Bedingungen
Noch mehr als in den Vorjahren beschäftigt mich die Frage nach dem „rechten Handeln“ unter „unrechten“ Bedingungen. Auf die Arbeitswelt umgemünzt: wie sieht der individuelle Weg der auf Gehalt und Job Angewiesenen aus, wenn sie Entscheidungen hinnehmen müssen, die in der Praxis keinen Sinn machen, wenn es gilt, sich mit irgendwo in Übersee beschlossenen Sparmaßnahmen zu arrangieren, die die Aufschrift „Kurzsichtigkeit“ und „Shareholder Value“ in großen, unsichtbaren Lettern tragen? Wie gehen sie mit mit Kommunikationsmangel, Unsicherheit und gefühlter Ungerechtigkeit um?
Ab wann beginnt man, selbst auszuteilen? Wie geht diejenige, die um ihren Job fürchtet, mit der neuen, deutlich jüngeren Kollegin in der Abteilung um, die noch dazu qualifizierter ist als sie?
Wie stark soll man sich emotional in die Arbeit einbringen, wie weit darf man sich im Eifer vorwagen, um nicht von der Leiter zu purzeln, wenn sich der Wind dreht? Wo muss, wo darf man nein sagen? Und vor allem: wie?
Chancen und Fallstricke
Die heutige Berufswelt ist gepflastert mit unzähligen Bruchstellen und Fallstricken, aber auch Entwicklungsmöglichkeiten. In jeder Situation haben wir die Möglichkeit, so gut wie möglich, so stimmig wie möglich zu handeln. Grenzen sind hinzunehmen, Spielräume oft gering, aber doch vorhanden. Sie werden übrigens oft nicht als solche erkannt.
Welche Fähigkeiten erfordert unsere Zeit ganz besonders?
In meinen Augen ist heute neben guter Kommunikationsfähigkeit vor allem ein Gefühl für kluges Timing und den richtigen Moment, gepaart mit der Kraft, durchzuhalten und Chancen im richtigen Moment am Schopf zu packen gefragt. Nicht nur kurzfristiges Denken ist notwendig, sondern auch eine mittel- und langfristige Perspektive muss eingenommen werden können.
Vielleicht kann man es auch als Beherrschen des Wechselspiels zwischen aktivem und passivem Modus sehen – wer innerlich getrieben immer aktiv „auf die Tube drücken“ muss, überlebt ruhigere Phasen nicht. Wer immer nur das sichere Nest mit idealen Bedingungen sucht geht unter im Moment, in dem höchste Aktivität gefordert ist.
Wir brauchen beides im Leben. Der Beruf ist Teil dieses Lebens. Und kluges Handeln lässt sich im Wege des Selbstmanagements über weiter Strecken erlernen.
Keine Karriere ohne Durststrecke
Ich habe noch keine Karriere ohne Durststrecke gesehen. Manche kommen früh in den Genuss und brauchen lange, bis sie überhaupt erste gute Berufserfahrungen machen. Andere Laufbahnen entwickeln sich lange Zeit positiv und konstant, bis sie durch eine Erschütterung aus verschiedensten Gründen ins Wanken geraten.
Besonders viele sind derzeit davon betroffen, auf eine befriedigende Karriere zurückblicken zu können, diese aber durch Unternehmenspolitik und Arbeitsmarkt erzwungenermaßen früh, etwa schon mit Anfang 50, beenden zu müssen.
Alle beschriebenen Szenarien verlangen ein hohes Maß an persönlicher Stärke, um gemeistert zu werden.
Gedanken zum Jahresende
Ich beschließe dieses Jahr in warmen Gedanken an alle, die ihre Arbeit verrichten, ohne besondere Wertschätzung dafür zu bekommen. Das sind übrigens viele, und ich kann nur beispielhaft aufzählen.
Ich denke an meinen Hausbesorger Goran, der für mich zu den glücklichsten Menschen zählt, die ich kenne. Noch nie habe ich ihn mit Besen und Putzzeug in der Hand widerständig gegenüber seinem Tun erlebt – ganz im Gegenteil, er scheint damit vollkommen in Einklang.
Ich denke an ärztliches Personal und Pflegende, die trotz mühsamer Bedingungen einfach weitermachen. Die in meinen Augen oft unterschätzen Lehrkräfte. Die systematisch unterschätzten Frühpädagoginnen und Pädagogen. Die Liste ließe sich lange fortsetzen, denn vermutlich gibt es in allen Berufen Menschen, die tagtäglich mit sich selbst um ethisches Handeln ringen, obwohl sie Daumenschrauben an ihren Fingern spüren, unter ihrem geringen Gehalt leiden oder auch, nur zu menschlich, mit ihrer Gier in Verhandlung treten müssen.
Und ich denke daran, dass der Anspruch, Arbeit solle laufend „Spaß“ machen, nicht nur zu hoch gegriffen ist, sondern viel unnötiges Leid verursacht.
Arbeit ist auch mit Mühe verbunden, und das war schon immer so. Was soll daran falsch sein?